Die politische Philosophie mit dem Modell der deliberativen Demokratie fordert seit den 1990er Jahren verstärkt die kommunikative Aktivierung von Bürgerinnen und Bürgern in der Meinungsbildung zu Sachfragen. Damit wird ein normativer Politik- bzw. Demokratiebegriff begründet, der auf die Erweiterung der politischen Beteiligungs- und Handlungsmöglichkeiten abhebt und das Erstarken des demokratischen und politischen Bewusstseins bei Bürgerinnen und Bürgern bezweckt (Bächtiger et al., 2018). In Zeiten der digitalen Transformation und gesellschaftlichen Polarisierungstendenzen sind Bürger*innen mehr denn je zur eigenständigen Urteilsbildung herausfordert, der unter anderem auch eine kritische Analyse von Informationen vorangehen sollte. Vermehrt wird von einer breiten Öffentlichkeit erwartet, dass Politische Bildung in Grundlagen des Demokratischen einführt, mit Heranwachsenden deliberative Verfahren einübt sowie deren argumentative Fähigkeiten und Urteilskompetenz schult. Entsprechende Zielformulierungen finden sich seit einiger Zeit in Modellen der Politischen Kompetenz (u.a. Detjen et al., 2012; Krammer, 2008). Zu deren genaueren Definition und Operationalisierbarkeit wie auch zu deren Förderung im Schulkontext stellen sich allerdings eine Reihe von Fragen. Nebst der theoretischen Schwierigkeit, die beiden Konstrukte trennscharf zu definieren, ergeben sich Debatten zu Zielnormen schulischen Argumentierens und Urteilens. Während in deliberativer Sicht Interessenaushandlung und Konfliktlösung im Vordergrund stehen (learning to argue), kommt dem Argumentieren in lehr-lerntheoretischer Sicht die Funktion eines Denkwerkzeugs zur Unterstützung des Problemlösens, des Erkenntnisfortschritts und der rationalen Urteilsbildung zu (arguing to learn). In den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern und insbesondere im Politikunterricht sind es dabei nicht nur Sachverhalte, sondern auch individuelle und gesellschaftliche Norm- und Wertvorstellungen, die in Diskursen ausgehandelt werden. Lebensweltliche Orientierungsangebote und Kommunikationserfahrungen in der Familie, in der peer-group, in Vereinen, Jugendorganisationen und nicht zuletzt in den Sozialen Medien tragen zu vorunterrichtlichen Erfahrungen bei. Diese bilden den Ausgangspunkt für formale Bildungsprozesse. Im Kontext der Politischen Bildung hat es sich bisher als günstig erwiesen, in der Vorbereitung von Debatten und Diskussionen kooperative Zusammenarbeit zu ermöglichen. Schüler*innen sollen einerseits darin unterstützt werden, zu ausgewählten Problemstellungen bedeutsame Sachverhalte und Positionen zu erschliessen. Andererseits soll Kontroversität und Debatte im Vordergrund stehen, um Einblicke in die Vielfalt von Bedürfnissen und differierende Wertvorstellungen zu ermöglichen. Darauf aufbauend gilt es, begründete Entscheidungen zu treffen. Trotz der inhaltlichen und funktionellen Vielfalt des Argumentierens besteht in der Fachliteratur die Vorstellung eines gemeinsamen Kerns, was die Struktur von Argumenten betrifft. Die diesbezüglichen politikdidaktischen Diskussionen (Gronostay, 2019; Petrik, 2010) orientieren sich an der informellen Logik (Toulmin, 1958/2003) und an diskurstheoretischen Ansätzen, insbesondere dem Ansatz der Pragma-Linguistik (van Eemeren et al., 2004; Walton, 2006). Darauf aufbauend wurden Indikatoren der Argumentationsqualität entwickelt, die sich auch an grössere Datensätze anlegen lassen und somit den Vergleich von Schülerleistungen und beeinflussende Faktoren zulassen. Zur Wirksamkeit diskursiver Lehr-Lern-Prozesse auf politische Urteilsbildung und Argumentationsfähigkeit ist allerdings noch nicht allzu viel bekannt. So kann der Einfluss verschiedener Aufgabenformate und Gesprächsimpulse auf erwünschte Lernprozesse bisher kaum abgeschätzt werden.
Das dreijährige Forschungsprojekt hat die Erarbeitung von Grundlagen zu Ausprägungen und Förderbedingungen des Argumentierens und Urteilens im Unterricht der Politischen Bildung sowie die empirische Überprüfung von deren Lernwirksamkeit in der Sekundarstufe I zum Ziel. Im Vordergrund steht die Frage, welche didaktischen Materialien sich zur Initiierung fachlichen Argumentierens und Urteilens in der Politischen Bildung eignen, welche didaktischen Herausforderungen sich stellen und welche Umsetzungen sich bewähren. Videoaufnahmen von Schülerdebatten und schriftlichen Textprodukten werden Einblicke in Lernprozesse bei Schüler*innen sowie Lernfortschritte gewähren. Das Projekt ist in zwei Phasen gegliedert: In einer ersten, explorativen Phase entwickelt das Forscherteam gemeinsam mit Lehrpersonen Gesprächsanlässe zum Argumentieren und darauf bezogene Aufgaben zum Urteilen und begleitet die Unterrichtserprobungen. Basierend auf diesen Erfahrungen sollen Problemstellungen und Begleitmaterialien (z.B. Argumentationstraining, inhaltliche Einführung und Urteilskriterien) bestimmt werden, die Schülerinnen und Schüler darin unterstützen, substanzielle mündliche Beiträge zu formulieren sowie ein begründetes Urteil zu verschriftlichen. Die zweite Phase widmet sich der Feststellung der Lernwirksamkeit ausgewählter Aufgabenformate durch ein quasi-experimentelles Studiendesign mit Prä-/Post- und Experimental-/Kontrollgruppen-Design. Überprüft wird, inwiefern sich unterschiedliche Aufgabenformate inklusive kurzem Argumentationstraining (Experimentalgruppe 1) oder Anleitung zum politischen Urteilen (Experimentalgruppe 2) im Vergleich zum üblichen Politikunterricht (Kontrollgruppe) auf die beobachtbare Argumentationsqualität in Schülerdiskussionen niederschlagen und darüber vermittelt sich auch in der schriftlichen Begründung von Urteilen zeigen.
In wissenschaftlicher Hinsicht wird hiermit eine Forschungslücke geschlossen. Die praktische Bedeutsamkeit des Projekts liegt in der Initiierung einer Unterrichtsentwicklung zum Argumentieren und Urteilen im Politikunterricht. Damit soll einer in der Vorgängerstudie beobachteten Engführung des Politikunterrichts auf Wissensvermittlung vorgebeugt werden (Thyroff et al., 2020).